Bald steht mein erster wirklicher Urlaub seit dem Schritt in die Selbstständigkeit an. Skifahren, Spaziergänge und viel Zeit zu lesen. Und weil sich in den vergangenen Jahren eine ganze Menge Lesestoff angesammelt hat, stelle ich euch einmal monatlich die Bücher vor, die sich in meinem Bücherregal einen Ehenplatz gesichert haben.

Es gibt, glaube ich, nur wenige Bücher, die mich so fest in ihren Bann gezogen haben, wie „Eichhörnchen“ von Anatoli Kim. Bevor ihr jetzt gleich recherchiert, wo man diesen Roman kaufen kann: neu gar nicht. Ich bin auf das Buch durch eine meiner Dozentinnen an der Uni gestoßen. Anatoli Kim stand als Thema der Referatsliste unseres Seminars „Verwandlungen und Identität“, und weil ich mich nicht wirklich entscheiden konnte, welches Thema ich übernehmen wollte, blieb am Ende nur der in Süd-Kasachstan geborene Autor, der mir nichts sagte, übrig. Also habe ich mich, gute Studentin die ich war, in der Bibliothek im Seminarreader auf die Suche nach dem Buch gemacht – und fand es nicht. Kann doch nicht sein, dachte ich. Jedes Buch auf der Liste muss doch auch verfügbar sein … Aber die Dozentin zu fragen, das war mir irgendwie auch zu peinlich.

Als ich nach ein paar Wochen immer noch keine Spur einer Ausgabe gefunden hatte – selbst gebraucht gab es online damals kein Expemplar –, erzählte ich meinen Eltern davon. Meine Mutter grinste mich an und sagte: „Das steht bei uns im Bücherregal.“ Denn Anatoli Kim hat in Moskau studiert und ist in Russland zur Zeit des kalten Krieges ein anerkannter Autor gewesen. Nach dem Fall der Mauer war russische Literatur nicht mehr so gewollt, aber mein Vater hatte tatsächlich noch seine Ausgabe des 1987 erschienenen Romans, die er als junger Mann geschenkt bekommen hatte.

Als ich in der Woche vor dem Referatstermin mit meiner Gliederung bei meiner Dozentin auftauchte, wollte diese mich gerade anfahren, wann ich denn gedenke, mit dem Referat zu beginnen. Sie war natürlich davon ausgegangen, dass ich das Buch nicht beschaffen könnte und es mir bei ihr ausleihen würde. Denn auch sie hatte eine alte Ausgabe. Sie staunte nicht schlecht, als ich ihr mein ziemlich zerlesenes Exemplar unter die Nase hielt.

So begann meine Beziehung zu diesem Buch. Doch nicht nur die ungewöhnlichen Umstände unseres Aufeinandertreffens faszinieren mich an „Eichhörnchen“.

Wer bin ich?

„Ich habe keine Eltern mehr, mein Vater, Offizier der Volksarmee, fiel im Koreakrieg, und meine Mutter starb vor Hunger im Wald, in der Hand einen Zettel mit dem Namen ihres Mannes. Neben der Mutter lag ich, ihre dreijähriger Sohn (…) Mir ist nichts von alldem erinnerlich, und mein Gedächtnis, wie ich es auch bemühe, bewahrt nicht einmal verschwommen das Aussehen meiner Mutter. Dafür aber weiß ich noch ganz deutlich, wie an einem Baumstamm ein rötliches Tier mit buschigem Schweif abwärtsglitt, auf einen Zweig über mir lief und mich von dort aufmerksam betrachtete. Die Augen des Eichhörnchens – und es muß ein Eichhörnchen gewesen sein, das mir wegen meiner eigenen Kleinheit riesengroß vorkam – blitzten so neugierig, so freundlich, so munter, so vergnügt, daß ich lachte und die Hand nach ihm ausstreckte.“

Eins vorweg: „Eichhörnchen“ ist kein Roman, der sich locker leicht runterlesen lässt. Ich habe ihn inzwischen bestimmt vier- oder fünfmal gelesen und finde immer wieder neue Wendungen und Interpretationsansätze. Anatoli Kim spielt in seinem, wie er ihn selbst bezeichnet hat, Märchenroman mit unserer Wahrnehmung unserer eigenen Identität. Vier Malereistudenten kommen der sogenannten Verschwörung der Tiere auf die Schliche und fallen ihr zum Opfer. Von uns Menschen unbemerkt haben sich Wandlinge unter uns gemischt, Wesen, die halb Mensch halb Tier sind, ihre Gestalt wechseln können und die Menschen verdrängen wollen. Der Begriff „Wandling“ ist eine Neu-Konstruktion des deutschen Übersetzers Thomas Reschke für das russische Wort „oboroten“. Dieses Wort entspricht etwa dem deutschen Wechselbalg oder Wiedergänger. Der Wandling wird von Eichhörnchen als der ‚Geist eines Tieres aus einer anderen Welt’ beschrieben. Das einzige Ziel des Wandlings ist es, satt zu werden. Alles um ihn herum steht hinter diesem Ziel zurück.

Eichhörnchen selbst ist einer dieser Wandlinge. Er besitzt die Gabe, sich in die Seelen der Menschen hineinzuversetzen, zu empfinden, wie sie empfinden, ihr Leid auf sich zu nehmen. Und so beschreibt er postum die Leben seiner drei Freunden Dmitri Akutin, Innokenti Lupetin und Georgi Asnaurjan, durch welche tierischen Zusammenstöße sie zugrunde gehen mussten und wie er selbst ihnen helfen wollte. Doch wer Eichhörnchen selbst ist, warum er die Rolle des Beobachters einnimmt, und wem er die Geschichte eigentlich erzählt, darüber darf der Leser spekulieren. Der Text macht es einem leicht, in diese Figur autobiografische Züge Anatoli Kims hineinzulesen. Immerhin wird der menschliche Name dieser Figur im Gegensatz zu seinen Freunden nicht benannt, sondern mit der Formel „…i“ mystifiziert. Doch das ist nur der offensichtlichste Ansatz.

 

Stürzen wir uns ins wandelbare Abenteuer

So rasant wie ein Eichhörnchen springt die Erzählperspektive dabei hin und her, wechselt zwischen Erinnerung und Kommentar, zwischen Interpretation des Erzählers und realem Ereignis. Als Leser verliert man schnell den Überblick, blättert zurück, liest nach, hinterfragt, ja, macht sich sogar Notizen, um mit dem flinken Waldtier mithalten zu können. Genau das macht „Eichhörnchen“ so beeindruckend. Anatoli Kim verwandelt die Sprache in ein Abenteuer, und auch wenn man davon ausgehen kann, dass die Übersetzung gegenüber dem Original verlier, so hat Thomas Raschke doch einen wirklich guten Job gemacht, das Gefühl in die deutschen Worte zu transportieren. Der Text fordert heraus, ist nicht bloße Unterhaltung. Ein Märchen, das uns dazu bringen will, unsere Umwelt genauer zu beobachten, unser Verhalten zu analysieren. Denn das tun Märchen doch. Sie zeigen uns das Schwarze und das Weiße im Leben und stellen uns die Frage, wer wir eher sein wollen. Ohne, dass es ganz schwarz und ganz weiß wirklich gibt. Die Vertierung der Figuren verführt uns als Leser dazu, auch die eigene Umgebund durch die Augen Eichhörnchens sehen zu wollen. Ein grausam trauriges aber nicht weniger magisches Märchen, das leider viel zu wenig Beachtung fand.

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