So frei sind wir – 70 Jahre Grundgesetz

So frei sind wir – 70 Jahre Grundgesetz

Am 23. Mai 1949 hat sich das deutsche Volk ein Grundgesetz gegeben. Seit 70 Jahren definieren diese Regeln, wie Menschen in meinem Heimatland zusammenleben, miteinander umgehen, was sie dürfen, was sie nicht dürfen. Es gibt nur wenige Worte, die so mächtig sind. Bis zum 23. Mai schaue ich mir in der Wortfinderei die ersten 19 Artikel, die Grundrechte, genauer an. Heute: Artikel 11 bis 15.

Halbzeit in dieser kleinen Serie über die Grundrechte der Bundesrepublik Deutschland. Und je tiefer es hineingeht in die Gesetzestexte, umso deutlicher wird, wie diese Worte unseren Alltag regeln, wie weitreichend sie formuliert sind, um so viele Lebensbereiche wie möglich abzudecken. Es sind keine bloßen Aneinanderreihungen von Buchstabenketten, diese Artikel wurden geschrieben, um viele Jahre für viele Generationen Gültigkeit zu behalten.

Dass der 11. Artikel so weit hinten in der Reihe der Grundrechte kommt, ist für mich immer wieder überraschend. Immerhin geht es hier um nichts geringeres als unsere Freiheit. Die Freiheit, dort zu leben, wo wir wollen.

 

Artikel 11

(1) Alle Deutschen genießen Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet.
(2) Dieses Recht darf nur durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes und nur für die Fälle eingeschränkt werden, in denen eine ausreichende Lebensgrundlage nicht vorhanden ist und der Allgemeinheit daraus besondere Lasten entstehen würden oder in denen es zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes, zur Bekämpfung von Seuchengefahr, Naturkatastrophen oder besonders schweren Unglücksfällen, zum Schutze der Jugend vor Verwahrlosung oder um strafbaren Handlungen vorzubeugen, erforderlich ist.

Für uns heute ist es nicht wirklich vorstellbar, dass wir nicht einfach von einem Bundesland in ein anderes ziehen dürfen. Dank der EU sind wir sogar frei, uns innerhalb Europas inklusive der Schweiz frei zu bewegen, unseren Wohnsitz unter bestimmten Voraussetzungen frei zu wählen. Als ich von Thüringen nach Hessen gezogen bin, musste ich keinen Antrag stellen, ob ich geeignet bin, in Hessen zu leben. Noch vor ein paar Jahren, bis 1990, war das in Deutschland keine Selbstverständlichkeit. Umso bedeutender ist dieser Artikel in unserem Grundgesetz. Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet. In allen Ländern des Bundes sind alle Deutschen frei, ihren Wohnsitz zu wählen.

Diese Freiheit setzt sich in Artikel 12 fort, denn auch unseren Beruf dürfen wir frei wählen.

 

Artikel 12

(1) Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen. Die Berufsausübung kann durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes geregelt werden.
(2) Niemand darf zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden, außer im Rahmen einer herkömmlichen allgemeinen, für alle gleichen öffentlichen Dienstleistungspflicht.
(3) Zwangsarbeit ist nur bei einer gerichtlich angeordneten Freiheitsentziehung zulässig.

Mit dieser Freiheit kommt natürlich auch die Bürde, sich für einen Beruf zu entscheiden. Und nur weil ich mich für einen Beruf entschieden habe, heißt es nicht, dass ich auch qualifiziert dafür bin. Daher ist der Nachsatz aus Absatz 1, dass die Ausübung des Berufes geregelt werden kann, essenziell. Man hat das Recht, aber damit kommt eben auch die Pflicht, sich selbst entsprechend zu bilden.

Die folgenden Absätze resultieren aus den dunkelsten Parts der Geschichte unseres Landes: Sie sollen dafür sorgen, dass Zwangsarbeit und Sklaverei auf deutschem Boden nicht mehr möglich sind Niemand darf zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden. Aufgeweicht wird der Satz allerdings durch die Ausnahme einer für alle gleichen öffentlichen Dienstleistungspflicht. Zivildienst, Wehrdienst und ähnliche Aufgaben sind damit also schon im Grundrecht abgedeckt. Und weil auch diese Definition allein nicht reicht, weil damit Gefängnisstrafen und dort verrichtete Arbeiten ausgeschlossen wären, braucht es den dritten Absatz des Artikels.

 

Artikel 12a ist für uns, die wir nie einen Krieg im eigenen Land erlebt haben, wohl der verstörendste. Denn hier geht es nicht nur um die Regelung eines Wehr- bzw. Zivildienstes. Dieses Grundrecht ist eher eine Grundpflicht, das Bundesgebiet und die darin lebenden Menschen zu verteidigen, wenn das Land angegriffen wird.

Artikel 12a

(1) Männer können vom vollendeten achtzehnten Lebensjahr an zum Dienst in den Streitkräften, im Bundesgrenzschutz oder in einem Zivilschutzverband verpflichtet werden.
(2) Wer aus Gewissensgründen den Kriegsdienst mit der Waffe verweigert, kann zu einem Ersatzdienst verpflichtet werden. Die Dauer des Ersatzdienstes darf die Dauer des Wehrdienstes nicht übersteigen. Das Nähere regelt ein Gesetz, das die Freiheit der Gewissensentscheidung nicht beeinträchtigen darf und auch eine
Möglichkeit des Ersatzdienstes vorsehen muß, die in keinem Zusammenhang mit den Verbänden der Streitkräfte und des Bundesgrenzschutzes steht.
(3) Wehrpflichtige, die nicht zu einem Dienst nach Absatz 1 oder 2 herangezogen sind, können im Verteidigungsfalle durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes zu zivilen Dienstleistungen für Zwecke der Verteidigung einschließlich des Schutzes der Zivilbevölkerung in Arbeitsverhältnisse verpflichtet
werden; Verpflichtungen in öffentlich-rechtliche Dienstverhältnisse sind nur zur Wahrnehmung polizeilicher Aufgaben oder solcher hoheitlichen Aufgaben der öffentlichen Verwaltung, die nur in einem öffentlichrechtlichen Dienstverhältnis erfüllt werden können, zulässig. Arbeitsverhältnisse nach Satz 1 können bei den Streitkräften, im Bereich ihrer Versorgung sowie bei der öffentlichen Verwaltung begründet werden; Verpflichtungen in Arbeitsverhältnisse im Bereiche der Versorgung der Zivilbevölkerung sind nur zulässig, um ihren lebensnotwendigen Bedarf zu decken oder ihren Schutz sicherzustellen.
(4) Kann im Verteidigungsfalle der Bedarf an zivilen Dienstleistungen im zivilen Sanitäts- und Heilwesen sowie in der ortsfesten militärischen Lazarettorganisation nicht auf freiwilliger Grundlage gedeckt werden, so können Frauen vom vollendeten achtzehnten bis zum vollendeten fünfundfünfzigsten Lebensjahr durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes zu derartigen Dienstleistungen herangezogen werden. Sie dürfen auf keinen Fall zum Dienst mit der Waffe verpflichtet werden.
(5) Für die Zeit vor dem Verteidigungsfalle können Verpflichtungen nach Absatz 3 nur nach Maßgabe des Artikels 80a Abs. 1 begründet werden. Zur Vorbereitung auf Dienstleistungen nach Absatz 3, für die besondere Kenntnisse oder Fertigkeiten erforderlich sind, kann durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes die Teilnahme an Ausbildungsveranstaltungen zur Pflicht gemacht werden. Satz 1 findet insoweit keine Anwendung.
(6) Kann im Verteidigungsfalle der Bedarf an Arbeitskräften für die in Absatz 3 Satz 2 genannten Bereiche auf freiwilliger Grundlage nicht gedeckt werden, so kann zur Sicherung dieses Bedarfs die Freiheit der Deutschen, die Ausübung eines Berufs oder den Arbeitsplatz aufzugeben, durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt werden. Vor Eintritt des Verteidigungsfalles gilt Absatz 5 Satz 1 entsprechend.

Die Formulierung dieser Absätze macht sehr deutlich, dass diese Pflicht nicht auf die leichte Schulter genommen werden darf, aber auch nicht fahrlässig genutzt werden soll. Das Gewissen, das gegen einen Dienst an der Waffe spricht, wurde hier genauso eingebaut wie die Gewichtung der im Verteidungsfall wichtigsten Aufgaben. Der Schutz der Bevölkerung wird besonders betont.

Dass dieser Artikel nicht mehr ganz zeitgemäß ist, zeigt sich an der Ungleichbehandlung zwischen Mann und Frau. Männer sind diejenigen, die das Land verteidigen und die zivile Ordnung herstellen müssen. Erst wenn der Bedarf an Arbeitskräften nicht mehr gedeckt werden kann, können Frauen herangezogen werden. Das dient zum einen dem Schutz der Familien, schafft allerdings auch ein Rollenbild, bei dem die Frau der schwächere Part der Gesellschaft ist. 

Die Freiheit, die Artikel 12 definiert, wird im letzten Absatz von 12a aufgehoben, wenn das Land in Gefahr ist.

 

 

Artikel 13

(1) Die Wohnung ist unverletzlich.
(2) Durchsuchungen dürfen nur durch den Richter, bei Gefahr im Verzuge auch durch die in den Gesetzen vorgesehenen anderen Organe angeordnet und nur in der dort vorgeschriebenen Form durchgeführt werden.
(3) Begründen bestimmte Tatsachen den Verdacht, daß jemand eine durch Gesetz einzeln bestimmte besonders schwere Straftat begangen hat, so dürfen zur Verfolgung der Tat auf Grund richterlicher Anordnung technische Mittel zur akustischen Überwachung von Wohnungen, in denen der Beschuldigte sich vermutlich aufhält, eingesetzt werden, wenn die Erforschung des Sachverhalts auf andere Weise unverhältnismäßig erschwert oder aussichtslos wäre. Die Maßnahme ist zu befristen. Die Anordnung erfolgt durch einen mit drei Richtern besetzten Spruchkörper. Bei Gefahr im Verzuge kann sie auch durch einen einzelnen Richter getroffen werden.
(4) Zur Abwehr dringender Gefahren für die öffentliche Sicherheit, insbesondere einer gemeinen Gefahr oder einer Lebensgefahr, dürfen technische Mittel zur Überwachung von Wohnungen nur auf Grund richterlicher Anordnung eingesetzt werden. Bei Gefahr im Verzuge kann die Maßnahme auch durch eine andere gesetzlich bestimmte Stelle angeordnet werden; eine richterliche Entscheidung ist unverzüglich nachzuholen.
(5) Sind technische Mittel ausschließlich zum Schutze der bei einem Einsatz in Wohnungen tätigen Personen vorgesehen, kann die Maßnahme durch eine gesetzlich bestimmte Stelle angeordnet werden. Eine anderweitige Verwertung der hierbei erlangten Erkenntnisse ist nur zum Zwecke der Strafverfolgung oder der Gefahrenabwehr und nur zulässig, wenn zuvor die Rechtmäßigkeit der Maßnahme richterlich festgestellt ist; bei Gefahr im Verzuge ist die richterliche Entscheidung unverzüglich nachzuholen.
(6) Die Bundesregierung unterrichtet den Bundestag jährlich über den nach Absatz 3 sowie über den im Zuständigkeitsbereich des Bundes nach Absatz 4 und, soweit richterlich überprüfungsbedürftig, nach Absatz 5 erfolgten Einsatz technischer Mittel. Ein vom Bundestag gewähltes Gremium übt auf der Grundlage dieses Berichts die parlamentarische Kontrolle aus. Die Länder gewährleisten eine gleichwertige parlamentarische Kontrolle.
(7) Eingriffe und Beschränkungen dürfen im übrigen nur zur Abwehr einer gemeinen Gefahr oder einer Lebensgefahr für einzelne Personen, auf Grund eines Gesetzes auch zur Verhütung dringender Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, insbesondere zur Behebung der Raumnot, zur Bekämpfung von Seuchengefahr oder zum Schutze gefährdeter Jugendlicher vorgenommen werden. Fußnote
Art. 13 Abs. 3: Eingef. durch Art. 1 Nr. 1 G v. 26.3.1998 I 610 mWv 1.4.1998; mit GG Art. 79 Abs. 3 vereinbar gem. BVerfGE v. 3.3.2004 (1 BvR 2378/98, 1 BvR 1084/99)

Nachdem das Grundgesetz geregelt hat, welche Freiheiten ein Mensch in Deutschland genießt und wann diese Freiheiten aufgehoben werden können, beschäftigt sich Artikel 13 mit der Privatsphäre. Hier wird zunächst einmal festgehalten, dass die Wohnung der privateste Ort ist, in den niemand eindringen darf.

Doch dieser Absatz wird sofort eingeschränkt. Denn wenn ein Richter eine entsprechende Anordnung gibt oder Gefahr in Verzug ist, darf eben doch in die Wohnung eingedrungen werden. Die Formulierung „Gefahr in Verzug“ lässt dabei viel Raum zur Interpretation. Denn was eine solche Gefahr sein könnte, muss von Fall zu Fall von einem gesetzlich dazu beauftragten Organ, also einer Behörde wie der Polizei, eingeschätzt werden. Und nicht nur die Durchsuchung ist inzwischen erlaubt, auch das Abhören mittels technischer Geräte hat Einzug in unser Grundgesetz gefunden. In welchen Fällen auf welche Art abgehört wird, darüber muss die Regierung dem Bundestag Bericht erstatten. Eine Kontrolle des genehmigenden Gremiums. Wie wichtig dem Gesetzgeber diese Möglichkeit, in die Wohnung einzudringen, ist, zeigt sich schon an der bloßen Fülle des Artikels.

 

Gerade in Berlin sind Artikel 14  und 15 derzeit derjenigen, die die meiste Aufregung hervorrufen. Darf der Staat Wohnungseigentümer enteignen, um die Wohnraumsituation zu entschärfen? Ja, darf er. Zum Wohle der Allgemeinheit. Was genau das Wohl ist, muss genauer definiert werden. Wie sich eine Enteignung auswirkt auch.

Artikel 14

(1) Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet. Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt.
(2) Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.
(3) Eine Enteignung ist nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig. Sie darf nur durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes erfolgen, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt. Die Entschädigung ist unter gerechter Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten zu bestimmen. Wegen der Höhe der Entschädigung steht im Streitfalle der Rechtsweg vor den ordentlichen Gerichten offen.

Artikel 15

Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden. Für die Entschädigung gilt Artikel 14 Abs. 3 Satz 3 und 4 entsprechend.

Doch der Artikel sagt noch viel mehr. Und gerade Absatz zwei sollte großausgedruckt so manchem Besitzer von Wohneigentum vor Augen geführt werden. Eigentum verpflichtet. Wer mehr besitzt als andere, sollte sich verantwortlich fühlen. Sollte seinen Besitz nutzen, um der Allgemeinheit zu helfen. Nicht nur, dass Großverdiener mit Hilfe von Steuern dazu gebracht werden sollen, die Nutzung des Eigenttums soll dem Wohl der Allgemeinheit dienen – nicht die blanken Profitsucht.  Das gilt nicht nur für Immobilienerben, sondern auch für Nachkommen unserer vielen Industriefamilien.

Besonders aus Artikel 15 wird deutlich, dass das Land, auf dem wir leben, allen gehört. Wenn es nötig wird, kann der Staat dieses beanspruchen und der Gesellschaft zuführen. So hat es das Volk mit seinem Grundgesetz bestimmt.

 

Na, habt ihr noch Lust auf die letzten Artikel der Grundrechte?

 

Von Familie, Schule und Versammlungsfreiheit – 70 Jahre Grundgesetz

Von Familie, Schule und Versammlungsfreiheit – 70 Jahre Grundgesetz

Am 23. Mai 1949 hat sich das deutsche Volk ein Grundgesetz gegeben. Seit 70 Jahren definieren diese Regeln, wie Menschen in meinem Heimatland zusammenleben, miteinander umgehen, was sie dürfen, was sie nicht dürfen. Es gibt nur wenige Worte, die so mächtig sind. Bis zum 23. Mai schaue ich mir in der Wortfinderei die ersten 19 Artikel, die Grundrechte, genauer an. Heute: Artikel 6 bis 10.

Mit den nächsten Artikeln der Grundrechte geht es in unser privates Umfeld. Jetzt schauen wir uns die Familie und den Umgang mit Kindern an.

Artikel 6

(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.
(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.
(3) Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen.
(4) Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft.
(5) Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen Kindern.

Das ist ein ganz schöner Brocken. Am Anfang stehen zwei Begriffe, die eingeführt, aber nicht weiter definiert werden: Ehe und Familie. Was verstehen wir darunter? Hier geht es um juristische Begriffe, Institutionen, und nicht um beispielsweise das christliche Sakrament der Ehe. Die genaue Definition ist im Zivilrecht geregelt. Danach sind in einer Eher zwei erwachsenen Menschen füreinander verantwortlich. In einer Familie übernehmen sie gemeinsam Verantwortung für Kinder.

Seit Kurzem gilt in Deutschland die Ehe für alle, endlich haben wir eingesehen, dass die Definition Mann-Frau, wie sie bisher als Erläuterung zu Artikel 6 galt, überholt ist. Auch der Familienbegriff hat sich in den vergangenen Jahrzehnten weiterentwickelt. All das lässt die Formulierung des Grundgesetzes zu, was beeindruckend ist. Die Autoren haben also bewusst oder unbewusst darauf geachtet, dass sich die Definitionen ändern können.

Interessant finde ich, dass die Pflege und Erziehung der Kinder als natürliches Recht definiert wird, aber das GG auch regelt, dass Eltern eben nicht alles dürfen und feste Pflichten haben. Sie dürfen nicht versagen – was auch immer eine Gesellschaft unter einem Versagen versteht. –, sie dürfen Kinder nicht verwahrlosen lassen, und sie müssen auch für die nicht-ehelichen Kinder Sorge tragen. Damit das funktioniert, ist die Gemeinschaft gefragt. Sie trägt auch Verantwortungen: die Verantwortung, dafür, dass Mütter Kinder bekommen und aufziehen können, die Verantwortung, dass Eltern ihre Kinder erziehen können, die Verantwortung, Kinder zu schützen. Und generell, wer ist eigentlich eine Mutter? Wer ein Kind unter 18 hat? Wer schwanger ist? Wessen Kinder bereits aus dem Haus sind? Schaut man sich dann an, wie prikär die Situation mancher Alleinerziehender aber auch von Frauen im Rentenalter in Deutschland ist, möchte man die Gemeinschaft an ihre Pflicht erinnern.

 

Artikel 7

(1) Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates.
(2) Die Erziehungsberechtigten haben das Recht, über die Teilnahme des Kindes am Religionsunterricht zu bestimmen.
(3) Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach. Unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechtes wird der Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt. Kein Lehrer darf gegen seinen Willen verpflichtet werden, Religionsunterricht zu erteilen.
(4) Das Recht zur Errichtung von privaten Schulen wird gewährleistet. Private Schulen als Ersatz für öffentliche Schulen bedürfen der Genehmigung des Staates und unterstehen den Landesgesetzen. Die Genehmigung ist zu erteilen, wenn die privaten Schulen in ihren Lehrzielen und Einrichtungen sowie in der wissenschaftlichen Ausbildung ihrer Lehrkräfte nicht hinter den öffentlichen Schulen zurückstehen und eine Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern nicht gefördert wird. Die Genehmigung ist zu versagen, wenn die wirtschaftliche und rechtliche Stellung der Lehrkräfte nicht genügend gesichert ist.
(5) Eine private Volksschule ist nur zuzulassen, wenn die Unterrichtsverwaltung ein besonderes pädagogisches Interesse anerkennt oder, auf Antrag von Erziehungsberechtigten, wenn sie als Gemeinschaftsschule, als Bekenntnis- oder Weltanschauungsschule errichtet werden soll und eine öffentliche Volksschule dieser Art in der Gemeinde nicht besteht.
(6) Vorschulen bleiben aufgehoben.

Der Schulartikel im GG ist bemerkenswert, weil er auf den ersten Blick zur Art des Schulwesens recht wenig sagt. Der Staat hat die Aufsichtspflicht über unsere Schulen. Alle Schulen: öffentliche, private, kirchliche – alle. Das war es. Keine Regelung zu Schulrecht, Schulpflicht oder Inhalt.

Allerdings steht in Absatz 5 dann doch noch etwas zur Gliederung, wenn auch indirekt. Denn hier ist von der privaten Volksschule die Rede. Damit sind nicht etwas private Äquivalente zu Volkshochschulen gemeint. Der Begriff meint Grundschulen. Diese müssen also bestehen, und nur dort, wo der Staat sie nicht anbieten kann, dürfen private Grundschulen errichtet werden. Damit nehmen Grundschulen eine besondere Stellung im Grundgesetz ein.

Einer der Kerne des Artikels beschäftigt sich im Speziellen mit Religionsunterricht und privaten Schulformen. Hier wird herausgearbeitet, dass Kirche und Staat getrennt sind. Der Staat hat zwar dafür Sorge zu tragen, dass Religionsunterricht stattfinden kann – so die Schule nicht bekenntnisfrei ist –, den Inhalt des Unterrichts bestimmt allerdings die Religionsgemeinschaft. Auch hier hält das Grundgesetz die Art der Religion offen. In Deutschland herrscht Religionsfreiheit. Es könnte also genauso ein jüdischer, ein muslimischer, ein buddhistischer Religionsunterricht gemeint sein, wenn es eine solche Religionsgemeinschaft gibt und sie entsprechenden Unterricht erteilen möchte.

Private Schulen müssen bestimmte Bedingungen erfüllen. Sie übernehmen eben nicht die staatlichen Bildungsaufgaben, und wenn sie es doch sollen, ist der Staat auch für sie verantwortlich. Dann muss dafür gesorgt werden, dass das Personal genauso gut ausgebildet ist wie das an öffentlichen Schulen und genauso gut bezahlt wird.

 

Artikel 8

(1) Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.
(2) Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden.

Das Recht auf Versammlungsfreiheit ist recht präzise formuiert. Jeder hat das Recht, sich ohne Anmeldung und Erlaubnis mit anderen zu treffen, so lange das friedlich geschieht und diejenigen keine Waffen nutzen. Genauer geregelt werden müssen solche Treffen laut GG, sobald sie unter freiem Himmel stattfinden sollen.

Trotzdem erregen diese zwei Sätze immer wieder Aufregung. Dabei wird auch oft diskutiert, ab wieviel Personen man eigentlich versammelt ist. Wenn ich abends mit meinem Partner im Park sitze? Oder wenn die Nachbarn dazukommen? Dazu äußert sich das Grundgesetz nicht. Gemeint ist natürlich eine Versammlung zu einem gemeinsamen Zweck, im Speziellen bei einer Demonstration oder einem Streik.

 

Sobald diese Versammlungen regelmäßig und strukturiert stattfinden, wird Artikel 9 wichtig.

Artikel 9

(1) Alle Deutschen haben das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden.
(2) Vereinigungen, deren Zwecke oder deren Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten, sind verboten.
(3) Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig. Maßnahmen nach den Artikeln 12a, 35 Abs. 2 und 3, Artikel 87a Abs. 4 und Artikel 91 dürfen sich nicht gegen Arbeitskämpfe richten, die zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen von Vereinigungen im Sinne des Satzes 1 geführt werden.

Wie bei den meisten Gesetzestexten werden auch hier zuerst die wesentlichen Begriffe eingeführt, die im Weiteren durch den Gesetzgeber definiert werden sollen. Artikel 9 spricht den Deutschen das Recht zu, Vereine und Gesellschaften zu bilden, sofern der Verein oder die Gesellschaft nicht nur gegründet wird, um gegen Gesetze zu verstoßen. Als Zweck darf auch nicht dienen, gegen die Verfassung vorzugehen oder Krieg anzuzetteln.

Der Fokus dieses Grundrechtes liegt, wie Absatz 3 zeigt, auf Zusammenschlüssen, um die Arbeitsrechte und -bedingungen zu sichern. Arbeitskämpfe sind hier speziell hervorgehoben. Es wird sogar explizit betont, dass dieses Recht auch nicht in Abrede gestellt werden darf. Obwohl Deutschland als Land der Vereine gilt, habe ich den Eindruck, dass dieses Grundrecht mit Blick auf Arbeitsbedingungen nicht mehr so intensiv wahrgenommen wird. Ich bin selbst im Deutschen Journalistenverband und merke täglich, wie schwer es ist, junge Kollegen zu überzeugen, für ihre Arbeitnehmerrechte einzustehen, für gute Bezahlung zu kämpfen und sich zusammenzutun. Im Meckern sind wir groß, im Handeln nicht so sehr.

 

Artikel 10

(1) Das Briefgeheimnis sowie das Post- und Fernmeldegeheimnis sind unverletzlich.
(2) Beschränkungen dürfen nur auf Grund eines Gesetzes angeordnet werden. Dient die Beschränkung dem Schutze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder des Bestandes oder der Sicherung des Bundes oder eines Landes, so kann das Gesetz bestimmen, daß sie dem Betroffenen nicht mitgeteilt wird und daß an die Stelle des Rechtsweges die Nachprüfung durch von der Volksvertretung bestellte Organe und Hilfsorgane tritt.

Was ist ein Brief? Verstehen wir darunter ein Stück Papier in Umschlag, das durch die Welt getragen wird? Oder reden wir hier vielmehr von der Nachricht, die transportiert werden soll? Dass es vor 70 Jahren noch kein Internet gab, ist selbstredend. Das Grundgesetz stammt aus einer Zeit, als Post noch eine staatliche Aufgabe war und man sicherstellen wollte, dass die Privatsphäre der Bürger gewährleistet ist.

Trotzdem ist das Gesetz so vorausschauend formuliert, dass es auch unsere Mails und Nachrichten einschließt. Denn das Fernmeldegeheimnis umfasst eben nicht nur Telefonate. Doch so vorausschauend wie der Text ist, so überfordert sind wir heute mit unseren eigenen Technologien. Darf die Polizei meine Briefe lesen? Darf Google meine Mails lesen? Darf mein Nachbar an mich gerichtete Briefe lesen, wenn sie offen sind? Darf mein Lehrer einen an mich gerichteten Zettel laut vorlesen? Darüber wird gestritten.

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